Seltsame Artikel
Abmischung von klassischem Gesang durch OFF-Technik
Dieser Artikel beschreibt eindrucksvoll, wie man mit modernem Studiogerät klassischen Gesang aufnimmt (und wie man gut verkauft).

Eine bekannte Firma für Audiotechnik brachte einst ein Studiogerät für professionelle Tonaufnahmen auf den Markt, welches die Signale angeschlossener Mikrofone vor der Analog-Digital-Wandlung in vielfältigster Weise bearbeiten konnte.  Dazu standen diverse hintereinander geschaltete Sektionen zur Verfügung, die sich ihrerseits mit allerlei Knöpfen und Reglern einstellen und justieren ließen.  Nebst dem hochlinearen Vorverstärker gab es je Kanal den obligatorischen 3-fach parametrischen Kompressor, der die Dynamik des Signals geschickt verbessern konnte, einen semiparametrischen 5-Band Equalizer, welcher die Klangkurve positiv beeinflussen konnte und einen in drei Stufen verstellbaren Softlimiter, welcher Übersteuerungen verhindern und mehr Lautstärke aus dem Signal herausholen sollte.  Außerdem konnte man einen dynamischen Verzerrer zuschalten, der auf Wunsch als sogenannter Exciter wirkte und die Audiosignale spitzer und prägnanter machte, was die Verständlichkeit erhöhen kann.  Schließlich verfügte das Gerät über eine zuschaltbare Röhrenverstärkerstufe, die ihrerseits das ursprüngliche Signal nochmals komprimierte und derart mit Obertönen (den sogenannten "Harmonischen") versetzte, dass der Klang warm und angenehm werden soll.  Durch die Verwendung von Röhrenstufen wirken nämlich moderne, hochlineare, nichtverzerrende Kondensatormikrofone wieder wie die alten nichtlinearen und verzerrenden Mikros aus den 50ern und so kann man wunderbar den wunderschönen Sound aus der guten alten Analogzeit wiederbeleben und die tollsten Klangszenarien hervorzaubern.  Alle Sektionen des Gerätes waren einzeln nutzbar, genauer gesagt, waren sie durch einen Ausschalter einzeln überbrückbar, wenn man sie für die jeweilige Anwendung nicht brauchte.


Nun begab es sich, dass eine blond gelockte Sängerin, ihres Zeichens Mezzosopranistin, des Weges kam und im Musikgeschäft um Rat suchte, welches Equipment sie denn wohl für die Aufnahme ihres klassischen Gesangs benötige.  Der Verkäufer, ein langhaariger Schlacks in Jeans, der neben seinem Aushilfsjob im Musikgeschäft u.a. Metallrockbands abmischt, offerierte ihr nach längerem Probehören das neueste Studiomikrofon in Großmembrantechnik mit den Worten: "Eine große Stimme braucht ein großes Mikrofon".  Außerdem wies er stolz auf das neueste Ausstellungsstück des eingangs beschriebenen Studiogeräts:  "Mit dem kann man alles Aufnehmen und Abmischen, was so anliegt".  Die Blondine war zufrieden und nahm die beiden Schmuckstücke umgehend mit nach Hause.

Nach vielen langen Stunden des Probierens, war die Blondine jedoch immer noch unsicher, wie sie das Gerät denn nun genau einstellen muss, denn all die vielen Knöpfe waren doch recht verwirrend.  So sehr sie auch probierte, sie war mit der erreichten Ergebnis nicht zufrieden.  Sie rief daher nochmals im Musikgeschäft an und wollte wissen, was zu tun sei.  Dabei bekräftigte sie, dass ihr vor Allem die Betonung ihres natürlichen Stimmklangs wichtig sei.  Speziell die sogenannten Formanten, welche das wichtigste Charakteristikum und Kriterium einer guten Stimme seien, sollten möglichst naturgetreu erhalten bleiben.  Der langhaarige Verkäufer überlegte kurz und empfahl, an allen klangverändernden Sektionen des Gerätes die Spezialtaste für das Betonen der Original Formaten zu betätigen.  Da es sich um ein amerikanisches Studiogerät handle, heiße die Funktion logischerweise "original formant forcing", kurz "OFF".

Die Blondine machte sofort eine Aufnahme, drückte dabei die Tasten wie empfohlen und erhielt den klarsten und saubersten Klang, den sie je erlebt hatte!  Sie war wirklich hoch zufrieden, lobte die großartigen Fachkenntnisse des Verkäufers in Sachen Klassikaufnahme sowie die hervorragende Qualität dieses imposanten und intelligenten Studiogeräts.

So waren alle glücklich bis ans Ende ihrer Tage: Die Audiofirma verkauft weiter massenweise mikrocontrollergesteuerte Studiogeräte mit hunderttausend Sonderfunktionen, die aus jeder Piepstimme einen Pavarottiklang zaubern können sollen und sogar 3x deutlich blinken, wenn beim Einsingen zufällig etwas Hitverdächtiges erklingt.

Der Langhaarige lebt weiter von den horrenden Verkaufsprovisionen überteuerter Studiogeräte und mischt in seiner Freizeit weiterhin hochmoderne "dark death black metal music", von der Insider allerdings behaupten, es sei in Wirklichkeit "black dark metal death music" und er kenne nur den Unterschied nicht.  

Die Blondine aber machte so richtig Karriere:  Sie färbte sich die Haare schwarz, nahm Unterricht, sang jahrelang erfolgreich als Operndiva an allen großen Häusern und wann immer sie bei Übertragungen ihrer Konzerte ein Mischpult oder ein Aufnahmegerät sah, optimierte sie fachmännisch den Klang, indem sie sicherheitshalber alle verfügbaren off-Tasten betätigte.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann singen, bauen und mischen sie noch heute ...

Dieser Artikel hat etwa 250 views im Monat !


Lesen Sie diesen Beitrag in englischer Sprache

Wie gefällt Ihnen diese Seite ?

Weitere Wahrheiten aus dem Studioumfeld: In der Praxis eines Tondoktors

J.S. Mai 2002
überarbeitet November 2006

© Studio 96